Gerechtigkeit für die SPD!

Veröffentlicht am 21.07.2009 in Bundespolitik

Artikel von DIE ZEIT (online),
Nr. 29 - 9. Juli 2009

Den Genossen droht bei der Wahl ein Debakel.
Das haben sie nicht verdient.

Eine Ehrenrettung

Artikel: MATTHIAS GEIS

In Großbritannien steht die Labour-Partei vor einer historischen Niederlage. Sie hat
das Land mit Lügen in einen falschen Krieg geführt und ist nun hauptverantwortlich
für eine Spesenaffäre, die das politische System erschüttert. Cool Britannia war
gestern, heute ist das Land in schlechter Verfassung. Der Absturz für Labour ist
also plausibel und gerecht.

Auch der SPD droht im Herbst eine historische Niederlage. Die Öffentlichkeit
beginnt schon einen Haken zu machen hinter das Wahlergebnis, die Union
diskutiert bereits über Ministerposten. Die Umfragen prognostizieren der SPD nicht
nur den Machtverlust, sondern ein demütigendes Ergebnis, das schlechteste der
Nachkriegsgeschichte. Selbst den Rang einer Volkspartei könnte sie verlieren. Das
alles ist nicht plausibel und nicht gerecht, eher schon aberwitzig.

Weder hat die SPD Deutschland in das Irak-Abenteuer hineingezogen, noch hat
sie sich durch eine Spesenaffäre unmöglich gemacht. Im Gegenteil: Das Land,
das sich anschickt, die Genossen in die Marginalisierung zu entlassen, ist nach
elf Jahren sozialdemokratischer Regierung ökologischer, liberaler, moderner,
ökonomisch stabiler und entspannter als vor ihrem Machtantritt im Jahre 1998. Die
Republik hat der SPD einiges zu verdanken.

Wahlergebnisse müssen nicht gerecht sein, und gewählt wird eine Partei nicht für
ihre vergangenen Verdienste, sondern weil es ihr gelingt, die Zukunftserwartungen
einer Mehrheit auszudrücken. Dennoch ist die Vorstellung fast schon absurd,
die SPD könnte im Herbst, trotz ihrer respektablen Regierungsbilanz, auf einen
historischen Tiefpunkt abstürzen. Immerhin hat sie die beiden entscheidenden
politischen Weichenstellungen der vergangenen Jahre durchgesetzt. Ein
Jahrzehnt nach der deutschen Vereinigung hat sie anerkannt, dass das Land
seiner außenpolitischen Verantwortung notfalls auch unter Beteiligung an einem
Kriegseinsatz nachkommen muss. So schickte sie Soldaten in das Kosovo und
nach Afghanistan. Und sie hat weitreichende sozialpolitische Reformen eingeleitet,
um den deutschen Sozialstaat unter schwieriger gewordenen internationalen
Konkurrenzbedingungen stabil zu halten.

Man kann sich die Art und Weise sozialdemokratischen Regierens idealer
vorstellen, konzeptionell durchdachter, kommunikativ professioneller – die
Einwände sind bekannt. Die Fehler haben Gerhard Schröder am Ende das Amt
gekostet. Aber wie lange soll die SPD dafür noch büßen?

Und was hat die Konkurrenz zwischenzeitlich zustande gebracht? Man muss
jedenfalls sehr weit zurückdenken, um bei der Union ein ähnliches Maß an
Risikobereitschaft zu finden wie bei der SPD in den Jahren 2003 bis 2005.

Danach haben sich die Sozialdemokraten weit besser in die Große Koalition
eingefügt, als es Schröders legendärer Ausbruch am Wahlabend 2005 erahnen
ließ. Auch unter der Kanzlerschaft Angela Merkels hat die SPD ihre Sache nicht
schlecht gemacht. Sie hat die Rente mit 67 beschlossen, die Konsolidierungspolitik
an führender Stelle verantwortet und den Kurs in der Wirtschafts- und Finanzkrise
maßgeblich mitbestimmt. Dass die Auswirkungen der Krise bislang erstaunlich gut
abgefedert wurden, ja, dass der Wahlkampf noch immer in sommerlich entspannter
Atmosphäre stattfinden kann, daran haben die SPD-Minister Steinmeier,
Steinbrück und Scholz ihren unbestreitbaren Anteil.

Nun aber wird die Partei von den Wählern und der Öffentlichkeit einzig daran
gemessen, dass sie die Rettung von Arbeitsplätzen etwas zu euphorisch
propagiert hat, während die Kanzlerin ihre Hilfsbereitschaft mit Skepsis
garniert und so eine bekömmliche Mischung anbietet, die sowohl Gegnern wie
Befürwortern einer staatlichen Interventionspolitik gefällt.

Dass die SPD einem schwarzen Herbst entgegengeht, hat jedoch tiefere
Ursachen als Merkels Kanzlerbonus. Die SPD war nie so selbstverständlich
Regierungspartei wie die Union. Ihr historisch gewachsenes Misstrauen gegenüber
der Macht richtet sich, sobald sie regiert, gegen sie selbst. Effizientes Regieren,
Anpassungsreformen oder Krisenmanagement sind der SPD zu wenig. Begeistern
kann sich die Partei daran nicht. Allenfalls eine politische Mission, in der sie sich
als »Partei des Fortschritts« erkennt, mildert ihr Unbehagen an der Macht.

Die Referenzphase für begeisternde Politik bleibt für die SPD der Beginn der
Regierung Brandt, als gesellschaftlicher Aufbruch, politischer Gestaltungswille
und eine charismatische Führungsfigur für einen historischen Augenblick
zusammenfanden. Diese Ausnahmesituation dient der SPD als unbewusster
Maßstab – an dem sie seither scheitert. Kaum jedenfalls finden sich in den Jahren
danach Phasen zufriedenen Regierens. Helmut Schmidt musste seine Politik
unter Krisenbedingungen ebenso gegen eine unduldsame Partei verteidigen
wie nach ihm Schröder. Und die Begeisterung, die der SPD-Vorsitzende Oskar
Lafontaine bei seinen Anhängern einst zu wecken verstand, konnte er selbst nie in
Regierungspolitik umsetzen.

Dass sich die SPD quält, ist insoweit erklärlich. Aber mit welcher Wollust die
Öffentlichkeit ihr dabei zusieht und mit welcher Rachsucht das Wahlvolk die
Partei von einer Hölle in die nächste schickt, das ist schon erstaunlich. Freundlich
betrachtet, korrespondiert der hohe Anspruch der Partei mit den Erwartungen aller
anderen. Auch die Öffentlichkeit fordert von der Sozialdemokratie den ideellen
Überschuss einer wegweisenden Politik. Die Partei soll nicht nur Probleme
lösen, sie soll Orientierung geben und Perspektiven eröffnen. Deshalb landen
die gesellschaftlichen und politischen Zukunftsfragen immer zuerst bei der
SPD. Von ihr erwartet man Auskunft darüber, wie gerecht es künftig unter den
Bedingungen der Globalisierung zugehen sollte oder wie unsere Wachstums- und
Wohlstandserwartungen mit den ökologischen Zwängen zu vereinbaren seien.
Wenn sie die Antwort schuldig bleibt und stattdessen auch nur, wie alle anderen,
»auf Sicht« fährt, schlägt die Enttäuschung leicht in Häme um.

Zehn Jahre nach der umjubelten Kanzlerschaft Brandts verlor die SPD eine
ganze Generation an die Grünen. Am Ende der Ära Schröder etablierte sich
eine gesamtdeutsche Linke. In diesen beiden konkurrierenden Parteien zeigen
sich für die SPD die ruinösen Kosten des Regierens. Und nun macht auch noch
eine auf Mitte getrimmte Union den Raum für die SPD immer enger. Deren
scharfe innerparteiliche Konflikte sind abgeflaut, stabilisiert hat sie sich in der
Großen Koalition nicht. Davon zeugen drei Wechsel im Vorsitz der SPD. Über
den nächsten wird bereits spekuliert. Das Erstaunlichste daran ist, dass es ihre
Regierungsfähigkeit nicht wirklich beeinträchtigt.

Dennoch wird in Berlin schon fast ohne die SPD disponiert. Und sie selbst wirkt
im Moment so passiv und ratlos, als habe sie sich mit dem drohenden Niedergang
bereits abgefunden, als sei es egal, wie hoch ihre Verluste ausfielen. Doch
zwischen niederschmetternden 25 Prozent, abgeschlagen in der Opposition, und
passablen 30 Prozent, weiter in der Großen Koalition, liegt ein Unterschied, den
die SPD erst ganz ermessen wird, wenn die schlimmere Variante eintritt. Das gilt
auch für das Wahlvolk, das sich im Moment so verhält, als habe es noch ein paar
Volksparteien in Reserve.

Für die SPD lohnt es sich, zu kämpfen. Und die Öffentlichkeit, enttäuscht von einer
Sozialdemokratie, die ihre Zukunftsfragen nicht mehr beantwortet, muss sich nun
selbst ein paar Fragen stellen: Hat es die SPD nach elf Jahren Regierung wirklich
verdient, in der tiefsten Krise ihrer Geschichte zu landen? Soll ihr Einfluss auf
die bundesdeutsche Politik drastisch und dauerhaft zurückgeschraubt werden,
oder kann auch das die Kanzlerin der Mitte kompensieren? Wird die Republik
damit zurechtkommen, wenn künftig nur noch die Union als einzige Volkspartei mit
realistischem Führungsanspruch übrig bleibt?

Die SPD verdient ein faires Urteil der Wähler. Die Republik verdient es, nicht mit
Merkel und Westerwelle allein gelassen zu werden.

 

Leni Breymaier MdB

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